Ich - wer?
Durch irgendwelche Umstände, die mir genauso wie allen meinen Artgenossen wohl immer verborgen bleiben werden, entwickelte sich im Bauch einer Frau ein Lebewesen, das ich, sobald ich selbstständig auf der Welt umherirrte, eben als Ich bezeichnete. Ich will die Einzelheiten gar nicht wissen - besser nicht. Vielleicht verspürten meine Eltern damals wirklich das, was Liebe heißt, vielleicht können nur Menschen, die im Augenblick großen Glücks gezeugt wurden, später selbst glücklich sein oder mindestens andere glücklich machen.
Was die Eltern mir also mitgegeben haben, und ob ich es auch gebrauchen kann, weiß ich nicht - und das ist auch gut so. Ich weiß nur, dass mein Vater und meine Mutter es immerhin fertiggebracht haben, dass sich im Körper meiner Mutter eine Nabelschnur bildete, an deren Ende sich ein selbstständiges Lebewesen entwickelte - in neun Monaten unter der allergrößten Anstrengung entwickelten die Eizelle meiner Mutter und das Spermium meines Vaters - beide für sich klein und nur für kurze Zeit lebensfähig, Zelle für Zelle am Ende der Schnur ein Lebewesen. Ein Lebewesen, das heißt etwas, das für eine Zeitlang Wärme für sich selbst gewinnen kann, etwas, das sich selbst bewegen kann, das Lebensenergie aufnehmen und für sich selbst und für andere verwenden kann.
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nähe
wenn eine flüchtige berührung,
ein unscheinbarer Satz,
ein schneller blickaustausch
eine inneren wärme hervorruft,
die intensiver nicht sein koennte
wenn man ineinander hineinsehen kann,
direkt in das herz,
fuehlen, was der andere fuehlt,
sehen, was der andere denkt
wenn man jemandem begegnet,
dem man nichts vorspielen kann,
bei dem man sein kann, wer man wirklich ist
da akzeptiert man,
was das leben uns geschenkt
und was das leben uns genommen hat,
dann alles hat wieder einen sinn,
denn man weiß,
man ist nicht allein auf dieser welt.
Herbstanfang
Glasklare Luft strömt in unsere Lungen,
schärft unseren Verstand,
erweckt tiefgründige, vergessene Gedanken wieder zum Leben.
Vorbei ist der dunstige Sommer:
die Pflanzen stellen stolz ihre gelb-rot lodernde Pracht zur Schau.
Die Sonne sieht gutmütig und wohlwollend auf uns herab,
zart erwärmt sie unsere Herzen.
Weise spricht die Natur zu uns und offenbart uns ihre reife Schönheit.
your most precious memories
are the ones you cannot tell
experiences you choose to memorize
deep inside your heart
you're the only one who knows about them
you will never forget them
and you will never let them go away
Zeit
Die Vergangenheit generiert die Gegenwart.
Die Gegenwart ist der schmale Grat zwischen Vergangenheit und Zukunft, der Leben heißt.
Die Zukunft hängt von deinem Geschick ab, die Gegenwart zu bewältigen.
Kritisiere nicht die Vergangenheit,
verschlafe nicht die Gegenwart,
fürchte nicht die Zukunft!
Sei stolz auf deine Vergangenheit,
lebe in der Gegenwart,
erbaue deine Zukunft!
Das Tier
Ich stellte fest, dass meine Zunge einen bitteren Geschmack hatte und ging zur Tränke, um mir das Maul auszuwaschen. Falls ich dem Leser in irgendeiner Weise zu ordinär hinsichtlich meiner Wortwahl erscheinen sollte, möchte ich ihn freundlichst auf die allererste Zeile dieses Textes hinweisen, nämlich auf den Titel "Das Tier".
Dieses Tier, um das es hier geht, war ich höchstpersönlich. Doch was soll's - ich glaube, dass es das Beste ist, wenn ich einfach zu erzählen beginne, was ich zu sagen habe.
Wie ich in meiner Voreiligkeit unvorsichtigerweise bereits verraten habe, war ich einmal ein Tier. Zwar war ich kein kapitaler Hirsch, doch immerhin bewegte ich mich auf vier Beinen und war behaart - ja, behaart, in etwa wie das Fell hier vor meinem Bett.
Das Tierleben begann recht einfach: Ich schlug die Augen auf, blinzelte noch zwei oder drei Mal, um sie scharfzustellen, und wanderte sogleich durch die Stadt. Die Stadt, in der ich ein Tier war, schien mir auf den ersten Blick ganz in Ordnung zu sein. Ich durchwanderte also die netten, gepflasterten Straßen, die von bunten, meist zweistöckigen Häusern gesäumt waren, und grüßte jeden Menschen, an dem ich vorbeikam, aufs Freundlichste.
Nach einer Weile, ich wartete gerade an einer Kreuzung, dass die Fußgängerampel endlich auf Grün schalten würde, verspürte ich eben jenen bitteren Geschmack auf der Zunge, so, als ob ich in einen riesigen Kiwi-Kern gebissen hätte, und nahm mir vor, die Tränke aufzusuchen, um die Zunge ordentlich einzuseifen und abzubürsten.
Es dauerte gar nicht lange, und ich überquerte mit einer Gruppe von Touristen, einer Alten und einem Hund, der Tobias hieß und an der Leine hing, die Straße und bog in eine Allee ein, in der ich sogleich die herrlichste Tränke meines Lebens fand...
Die reitenden Hexen
Es flog eine Hexe über die kleine Ortschaft und setzte sich nach drei Runden auf die Schultern von Jonas. Seitdem die Hexe auf ihm reitet, sieht man ihn of schwitzend durchs Dorf traben, und manchmal, wenn die Hexe einen Moment lang unvorsichtig ist, strauchelt er, weil ihm der Saum ihres Rockes über die Augen fällt.
Auch der kleine Benjamin wurde zum Reittier bestimmt - allerdings setzte sich seine Hexe schon vor seiner Geburt auf seine Schultern, und da er das Tragen schon von Geburt an gewohnt ist, schwitzt Benjamin nicht so wie Jonas, ja, er glaubt sogar, dass die Hexe, die er im Badezimmerspiegel täglich beim Zähneputzen ansieht, zu seinem Körper gehört - ebenso wie seine Haare und seine Hände. Seine Mutter war schon des öfteren mit ihm beim Augenarzt, da er vor dem Spiegel immer in die Knie ging, damit der Hexenkopf sich spiegelte und die Hexe ihre Haare ordnen konnte. Seine Mutter, die als intollerante Person auf die Frisur seiner Hexe keinerlei Rücksicht nahm, beschloß, dass ihr Sohn schielte. Da sie ihre Entdeckung den Freundinnen telefonisch mitteilte und diese es ihren Söhnen und Töchtern weitererzählten, bekam Benjamin in der Schule statt des Namens, den er sich verdiente, nämlich Hexenschlepper, den Spitznamen Spiegelschieler. Und so kam es, dass durch den Irrtum seiner Mutter niemand im Dorf außer ihm selbst von der Existenz der Hexe wußte...
verrückt - die seiltänzer
nur wenige wissen um das geheimnis der verrücktheit, der lust, der leidenschaft, und wenige kennen die normalität der verrücktheit, die leisen schattierungen, die feinen linien, die den maler vom mörder trennen. sie wissen, wie schmal der übergang ist, wie leicht jemand unbewußt, ohne dass er selbst oder andere es merken, die grenze übertritt und in den augen der gesellschaft von einem extrem ins andere fällt.
die anderen bleiben dem seil fest verhaftet, kennen es nur der länge nach, und verneinen entschlossen die möglichkeit der seitwärtsbewegung und die geringe breite der linie. dass es für andere leichter ist, sie zu überspringen, ja sie zu übersehen, widerspricht ihren erfahrungen. sie unterscheiden mit bestimmtheit gutes von bösem, zweifel kommt dabei nicht auf.
es gibt auch quergeher, die verlernt haben, zu zweifeln, sie halten krampfhaft an einer sache fest, die sie auf ihrem weg aufgelesen haben, und reißen ein tiefes loch in der straße auf, denn sie haben vergessen, dass leben weitergehen bedeutet, dass ein lebendiger mensch sich an nichts unbewegliches hängen darf.
diese leute werden von den seiltänzern, je nach beschaffenheit des festgehaltenen als verrückte, genies, führer, fanaten, helden, boten des teufels oder gottes angesehen. sie drehen durch, begehen mord, selbstmord, oder sie werden zu heiligen deklariert.
die zweifler, die im raum schweben, hin und her geschleudert werden und nur von zeit zu zeit das seil zu fassen bekommen, die es eigentlich gar nicht fassen wollen, treiben irgendwo im unendlichen raum umher, dort, wo zeit nur mehr vier buchstaben bedeutet. ihnen dröhnen die rufe der anderen in den ohren: wieviel verdienst du...? wie spät ist es...?
sie fallen, ein berauschender fall, endlich losgelöst vom klebrigen seil, und der fall scheint sich als endlos zu entpuppen. nach einer weile fragen sie sich, wo sie aufkommen werden, was dann mit ihnen geschehen werde, ob sich die lange reise denn ausgezahlt hätte. sie muß wohl, denn aufwärts ist noch nie jemand an ihnen vorbeigeflogen.
wie groß ist die leere?
auf ihrer reise fangen sie an, etwas zu schaffen. die einen schreiben, die anderen malen, erzählen, zeichnen, versuchen, anderen zu helfen, trainieren ihren körper, pflegen ihn oder den anderer. sie bauen, denken sich aus, erfinden, bleiben stehen...
gleich spinnen weben sie ein netz, auf dem sie anfangen zu leben; das jeden tag weiter nach oben schwebt, wenn die frauen schwanger sind; das die kinder an das seil kettet, da das leben nur dort beginnen kann. die eitern werden vor eine entscheidung gestellt: wieder fliegen, oder mit dem kind kleben, um später einmal gemeinsam zu fallen oder vielleicht auch klebenzubleiben.
Verwirrung
Nebelschwaden ziehen durch mein Gehirn.
Wo bin ich, was bin ich, wer bin ich?
Ich kann nichts erkennen.
Es ist still. Ich kann nichts hören außer meinen Gedanken. Sie rauschen vorbei wie Autos.
Manche biegen ab, verschwinden in der Unendlichkeit.
Aber einige kehren zurück. Kommen immer wieder.
Ich versuche, ihnen zu folgen.
Suche das Licht, und finde erdrückende Finsternis. Ich irre umher. Ich kann nicht anders. Wenn ich
stehenbleibe, holen mich böse Gedanken ein.
Jedes Rasten bedeutet, dass ein Teil von mir stirbt.
Deshalb renne, gehe, krieche, schwimme ich,
bis ich endlich das Licht gefunden habe.
Und mich ausruhen kann.
Chaos
Chaos & Unordnung
Gehen Hand in Hand die Straße entlang. Sie stiften Unruhe mit jedem Schritt,
jeder Bewegung,
jedem Blinzeln ihrer Augen.
Die Augen der Leute flackern auf.
Sie beginnen sich zu erinnern.
Irgendwann in diesem oder einem anderen Leben...
Sie erinnerten sich, dass das Leben damals schöner war.
Dass sie heute Gesetze haben, um Unschuldige einzusperren, Türschlösser, um andere auszusperren,
Fernseher, um nicht von Freunden abhängig zu sein, Verhaltensregeln, um sich selbst einzuengen,
Zeichentrickfilme, um die Phantasie der Kinder einzuschränken, Irrenhäuser, um Leute, die man nicht versteht, loszuwerden, Politik, um andere hassen zu können.
Die Leute warfen alle diese Belastungen ab,
gingen in einer Prozession hinter Chaos & Unordnung die Straße entlang...und waren glücklich.
Die Schlange
Er wußte, dass es diese Schlange gab. Er hatte sie beseitigt, um zu wissen, dass es sie gab und immer geben würde. Man konnte weder ihren Anfang noch ihr Ende sehen - nur ein Stück von ihr, das an der einen Seite dicker war als an der anderen. Er wußte, dass die dickere Seite in den Kopf überlief - und die dünnere in den Schwanz. Aber welche Kurven, welche Windungen würde ihr Körper haben? Entfernten sich ihr Anfang und ihr Ende voneinander, oder trafen sie in einem unendlichen Bogen wieder zusammen? War es überhaupt eine Schlange? Biß sie sich schließlich selbst in den Schwanz? Vielleicht tat sie es, ohne zu wissen, dass es ihr Schwanz war. Vielleicht war er nur mehr eine tote Hülle, die nur vorgab, ihr Schwanz zu sein. In Wahrheit war er vielleicht schon vor Tausenden von Jahren abgestreift worden, hatte sich damals von ihr getrennt und hatte mit ihr nur mehr das eine gemeinsam, dass er sie eine Zeitlang umhüllt hatte, sie zu schützen versucht hatte, zu schützen vor allen möglichen und unmöglichen Gefahren. Ist sie sich dessen bewußt, wenn sie jetzt, nach Jahrtausenden, durch Zufälligkeit, oder eben doch durch ihre unbewußte Zielstrebigkeit mit ihren schwerfälligen Bewegungen wieder auf ihn trifft? Sie hatte ihn leblos hinter sich gelassen, einen ehemaligen Teil ihrer selbst, der seinen Zweck bereits erfüllt hatte und von dem sie sich ohne Bedauern getrennt hatte.
Wird sie jemals auf ihrem unendlichen Weg auf diese zerbrechliche Hülle stoßen, sie dann erkennen und als Teil ihrer Vergangenheit wahrnehmen? Wird sie sie überhaupt wahrnehmen wollen, oder wird sie nichts mehr von ihr wissen wollen? Sie wird nicht zugeben, dass sie nach ihrem langen beschwerlichen Weg wieder an ihren Anfang, ihren Ursprung zurückgekommen ist. Dass sie trotz ihrer vielen, verwirrenden und scheinbar ungeordneten Windungen und Wendungen wieder zum Ausgangspunkt zurückgekommen ist, ohne je ein Ziel erreicht zu haben.
Sie legt sich neben der abgebrochenen Hülle ihrer Schwanzes nieder, zuckt, zuckt zweimal, dreimal, bevor auch aus ihr alles Leben weicht. Die Hülle, die Überreste dessen, was sie einmal war, verbleichen, und erst sobald ihre Spuren gänzlich verwischt sind, ihr Körper gänzlich zerfallen ist,
wird aus der Erde eine neue Schlange auftauchen, und sie wird an der gleichen Stelle ihre erste Hülle abstreifen. Auch sie wird, trotz gänzlich anderer Wege auf noch größeren Irrwegen und Überkreuzungen - ist es purer Zufall? - am Ende ihrer Kräfte wieder hier ankommen und hier erschlaffen.
Flußlandschaft des Räucherstäbchens
Das Räucherstäbchen zeichnet graue Flußlandschaften in den Raum. Die Flüsse sind zuerst breit, verzweigen sich immer mehr, bilden Strudel und kleinste Abzweigungen, die wie unsichtbare Fäden den Raum in einen etwas zu süßlichen Duft hüllen. Draußen ist Nacht, aber das ist heute für uns nicht von sehr großer Bedeutung.
Thomas sitzt fast genau mitten im Zimmer auf dem Boden, peinlich genau im Zentrum hat er nämlich eine Kerze aufgestellt. Überhaupt ist er ein sehr ordentlicher Mensch. Nur wenn wir uns den Raum etwas genauer ansehen, entdecken wir hinter dem massiven, dunkel gebeizten Kasten ein altes staubiges Taschentuch, das wahrscheinlich schon vor etlicher Zeit in den Spalt zwischen dem Möbelstück und der hellen Wand gefallen ist und das er nicht der Mühe wert befunden hatte, mit einem langen spitzen Gegenstand wieder herauszuangeln.
Das Räucherstäbchen steckt in einem Blumentopf, der nur mehr mit Sand gefüllt ist. Der Rauch findet ohne Schwierigkeiten seinen Weg zur Nase Thomas' , der noch immer regungslos an der gleichen Stelle hockt und die Stirn runzelt.
Was solls auch! murmelt er in dem halblauten Tonfall, der ihm in den letzten Monaten in all den namenlosen, zähflüssigen Nächten zur Gewohnheit geworden ist. Die Nächte sind alle gleich. Immer dieselbe klebrige, erdrückende, dunkle, schwere Masse. Langsam beginnt er sich mit den Händen vom Boden wegzudrücken, sackt noch einmal mit einem Seufzer zusammen und richtet sich schließlich mit einem Ruck auf. Endlich hat er sich überwunden, schlafen zu gehen.
Die Flamme
Die Kerze brennt.
Man kann es riechen,
fühlen,
sehen.
Sie existiert.
Du willst sie auslöschen, aber ihr Schein,
ihre Wärme
und der Geruch des Wachses leben in meiner Stirn weiter.
Sie flackert gleichmäßig
mit dem Ein- und Ausatmen meiner Lungen. Meine Hände umgeben sie,
um Wärme zu tanken.
Ich betrachte sie,
um mich zu konzentrieren.
Ich schließe die Augen,
um zu lernen, mich an sie zu erinnern.
Wo
Weit und breit niemand in Sicht. Die Stadt lag wie ausgestorben, verlassen da - in der drückenden Hitze hatten sogar die Vögel ihren Gesang eingesellt und sich - wer weiß, wohin? - verkrochen. Wo sind denn alle? Was heißt das, Stadt? Sind das einfach nur Mauern, verglaste Fenster, geteerte Straßen und Höfe? Was denkt sich der Mensch, der sich den eigenen Lebensraum nimmt, sich bei lebendigem Leibe in Beton eingräbt, sich dann bei eben so einer Hitze wie heute zurückzieht und im selbsterrichteten Kerker schmachtet?
Stadt - das sind ja unzählige Menschen auf wenigen Quadratmetern, und trotzdem ist jeder für sich, allein, und er träumt von Geld, von Erfolg, vom eigenen Haus mit Garten einschließlich Gärtner.
Der Bauernhof
Ein kleiner Bauernhof. Ein Mann und seine Frau beim Äpfelpflücken, ihre fünfjährige Tochter spielt im Gemüsegarten. Ein Auto fährt in den Hof. Eine Frau und ihre beiden Kinder steigen aus. Die Frau geht in die Garage, um Obstkisten einzeln in den Kofferraum des Autos zu tragen. Die Kinder laufen in den Gemüsegarten, sie haben die Kleine gesehen.
Die Kleine schaut kritisch. Sie sagt, Halt! Wo wollt ihr hin? Das ist unser Garten.
Der Kleine hüpft über den niederen Zaun, seine Schwester steht noch unschlüssig dahinter. Schau, sagt der Junge, du lügst. Der Garten kann gar nicht euch gehören, das Haus und die ganzen Wiesen, Äpfelbäume und Reben ringsum gehören alle meinem Vater. Er hat sie, ge, ge, geerbt oder wie man das eben nennt.
Die Kleine wird wütend. Gerbt, so ein dummes Wort. Wir wohnen hier, die Eltern arbeiten immer auf der Wiese, sie pflücken das Obst. Ich habe deinen Vater noch nie hier arbeiten sehen. Wo ist er denn immer, wenn ihm schon das alles gehört?
Der Kleine sagt stolz, Er arbeitet in der Stadt.
Ja, aber, die Kleine versteht nun überhaupt nichts mehr. Sie wird ungeduldig, Wenn er also in der Stadt ist und arbeitet, dann kann er doch hier nichts zu sagen haben. Hier entscheidet nur mein Vater - und manchmal meine Mutter...
Kinder! hören sie es von dem Hof her schreien. Kommt, wir haben es heute eilig. Ich fahre jetzt wieder. Die drei Kinder laufen zum Auto. Die Frau läßt ihre Kinder auf den Rücksitz klettern und verabschiedet sich von den Bauern, die nun auch auf den Hof gekommen sind.
Dann komme ich also morgen wieder, und Sie pflücken inzwischen zwei Kisten Birnen und die reifen Pfirsiche! Mein Mann wird übrigens in nächster Zeit wegen der Rechnungen vorbeischauen. Sie steigt ein, fährt weg. Die Kinder winken einander zu.
Die Kleine schleicht zu ihrer Mutter. Mami, fragt sie, warum pflückst du ihnen die Früchte. Gehört der Hof denn nicht uns?
Ja, das ist eben so. Er gehört dem Vater der Kinder. Wenn er kommt, sagt er deinem immer, was er tun soll, das ist nun einmal nicht zu ändern.
Aha, sagt die Kleine und geht nachdenklich in den Garten zurück. Die Mutter gibt dem Jungen also auch Recht, aber ungerecht ist es doch. Für mich gehört der Hof immer noch meinem Vater und nicht dem anderen Mann aus der Stadt, der ja doch nie da ist.
Das Ende der Erde
Als die Erde beschloß, sich gleich Einzellern zu teilen, teilte sie dies wohlweislich allen Tieren und Pflanzen, nur ihnen, nicht aber den Menschen, mit.
Lange hatte die Erde dem Treiben auf ihrer Oberfläche zugeschaut, doch sehr lang hatte es gedauert, bis sie bemerkte, dass sie von den Menschen nichts Wesentliches lernen konnte. Langsam kroch sie die Stufen der Evolution wieder zurück, stand wieder kurz nach ihrer eigenen Entstehung, als sie endlich begriff, dass das Erste, was sie an Lebendigem hervorgebracht hatte, das einzige Wahre war und ist.
Nachdem nämlich der Impuls fürs Leben erst einmal gesetzt worden war, ergab sich alles Übrige von selbst. Zu diesem weisen Satz in einer schlaflosen Nacht gekommen, versuchte die zum Zeitpunkt der Erleuchtung von der Sonne abgewandte Seite, der anderen ihre Entdeckung mitzuteilen:
»Mein Bruder, wir haben uns geirrt. Wir glaubten, mit den menschlichen Siam- Zwillingen verwandt zu sein und nur durch eine Operation unter Benachteiligung eines von uns selbstständig werden zu können.
Aber, wie gesagt, wir haben uns gänzlich geirrt.
Als ich, beschämt durch unsere vermeintlichen nächsten Verwandten, zu Boden blickte, sah ich, wie sich gerade eine „Einzellerin" teilte. Es war noch wunderbarer als jede menschliche Geburt. Aus Eins wurde Zwei - beide identisch miteinander, aber dennoch existierte jede für sich. Jede machte sich auf ihren eigenen Weg, den sie, wie es so sein muß, eben nur alleine gehen kann - und dennoch, das ist das Erstaunliche - bleiben alle wichtigen Informationen in beiden erhalten, beide entwickeln sich aus ihrem Ursprung aus weiter. Und das ist es, was ich dir sagen will: Wir sind zwar immer noch Eins, bleiben es aber nicht für immer. Unsere Trennung wird nicht schmerzhaft sein, sie ist kein Verlust der anderen Hälfte, sondern die Geburt zweier neuer Welten, die sich beide getrennt voneinander entwickeln können. Es wird eine neue Zeit kommen, mit neuen Chancen für beide. Aber wir werden nicht gegeneinander wetteifern, keiner wird sagen können, er sei besser als der andere. Ob unsere Bewohner dies aber einsehen werden, weiß ich noch nicht. Sie sind ziemlich versteift auf ihr Entweder-Oder-Denken und ihre Schwarz-Weiß-Malerei...
Heile Welt
Heile Welt
Unvorstellbare Welt Unwirkliche Welt
SUCHE nach Freiheit Frieden
Gleichheit
SUCHE nach dem Leben Wirkliches Leben
LEBEN ohne Haß Krieg
Tod
Eine neue Welt
Revolution
Revolution ohne Krieg? Revolution ohne Mord? FRIEDEN ohne KRIEG?
Alle Menschen in einer heilen Welt Alle Menschen in meiner Welt MEINE Welt für alle Menschen?
EINE Welt für ALLE
Die gleiche Welt für alle?
Eine Welt für alle und für jeden einzelnen Platz für alle?
Unmögliche Welt?
Für jeden seine Welt
Seine Traumwelt
Seine heile Welt - für jeden einzelnen.
Frei
Bist du frei?
Nein, ich frage nicht, ob du im Gefängnis bist. Ich frage dich, ob du wirklich frei bist.
Oder bist du ein seelischer Gefangener? Ein Gefangener deines Pflichtbewusstseins deines Stolzes
der Vernunft
der Gesellschaft
Bist du stark genug, dein Geld,
Tradition,
Zivilisation
hinter dir zu lassen, um frei zu sein?
Wie kannst du frei sein, wenn du vernünftig bist? Vernünftig sein bedeutet, "sich anpassen",
das tun, was man gesagt bekommt.
Denke nach: wer hat das Wort "Vernunft" erfunden? Die Menschen.
Und Menschen können zum Glück auch Fehler machen. Überlege, wie du selbst frei sein kannst.
Das kannst allerdings nur du allein.
Egoismus
Ich, du, wir alle sind Egoisten.
Sie mehr, er weniger.
Weiße, schwarze, gelbe, rote Egoisten,
überall auf der Welt..
Können die Weißen sich erlauben, zu behaupten,
Egoismus sei das Recht ihrer Rasse?
Welche andere Rasse könnte das?
Und mit welcher Begründung?
Sitzend vor dem Fernseher,
esse ich zu Abend.
Als Nachspeise gibt es
Schokoladenpudding und Kekse.
Im Fernsehen läuft gerade ein Film über die Dritte Welt,
Thema: Unterernährung.
Ich nehme mir noch eine
Handvoll Kekse.
Eigentlich bin ich schon längst satt,
doch ich esse weiter...
Warum ?!
Menschen auf der Welt
Menschen auf der Welt
gibt es unendlich viele
so viele du willst
Menschen auf der Welt
gab es vor dir unzählige
und wird es nach dir unzählige geben!
Zähle:
eins, das bist du,
zwei, drei, vier,...deine Bekannten,
sechsundzwanzig... vierundfünfzig... die Leute,
die an dir auf der Straße vorbeigehen.
Hey du!
Hey du!
Ich möchte bei dir sein, denn
ich habe ein verzweifeltes
Aufflackern in deinen Augen
gesehen,
das leise Zittern deiner
Lippen,
dein stoßartiges, schnelles Einatmen, deine verkrampfte, nervöse Hand, deinen suchenden Blick, der
immer wieder die Wichtigkeit
der Dinge überprüft,
um dann doch wieder erschöpft
abzugleiten;
deinen schleppenden Gang,
dein Zusammenblitzen unter meinem Blick. Nein, keine Angst! Ich will dir nicht wehtun. Ich will dich nicht verletzen.
Ich möchte dir helfen,
dir eine Freude machen,
dich verstehen lernen,
damit wir zu zweit
ruhige, zufriedene Augen bekommen, volle, sanfte Lippen,
kräftige Atmung,
tastende, vorsichtige Hände,
einen erfüllten, zufriedenen Blick, der an allem Wichtiges entdeckt und mit dem wir uns,
besser als mit Worten,
miteinander und zusammen
ohne Ausschweifungen verständigen können; Und dazu noch einen sicheren Schritt,
der alle ansteckt,
mit uns durch die Welt zu gehen.
Du bist schön für mich
Du bist schön für mich
Vielleicht nur für mich allein
Ich möchte deine Hand halten Ganz nahe bei dir liegen und
Deinen Körper fühlen
Ich möchte, dass wir uns anschauen Würde gern dein Gesicht streicheln Deine Lippen berühren
Ich möchte, dass du mich festhältst
Ich möchte dein Gesicht ganz dicht vor mir haben
Möchte dir näherkommen, bis ich dich atmen fühle
Dann würde ich rot werden
Würde nach deinen beiden Händen greifen Dann würden wir uns loslassen
Um uns fest zu umarmen
Um unsere Lippen zusammenzuführen Und uns zu küssen - wer weiß, wie lang?
Bis jemand von uns damit aufhört und sagt, Dass wir uns nicht küssen können
Wir schauen uns kurz und traurig an
Bis wir den Blick nicht mehr ertragen
Und uns stumm umarmen
Dann wird jeder von uns
In die für ihn einzig richtige Richtung gehen Und das für ihn bestimmte Leben weiterführen, So gut es nun eben geht.
Vergiß mich bitte nicht.
Vielleicht werde ich einmal zu dir zurückkommen.
Ich werde viel gelernt, aber auch viel vergessen haben. Ich werde wieder von Neuem, von ganz unten anfangen. Wir werden uns neu kennenlernen,
das Bild, das wir in unserer Erinnerung voneinander haben, Zurechtzurücken.
Es wird vielleicht eine große Enttäuschung werden. Vielleicht trauen wir uns gar nicht,
Uns wieder zu begegnen.
Vielleicht, das hoffe ich,
Werden wir aber stark genug sein,
Und wir werden uns in die Augen schauen, ohne zu zucken. Vielleicht können wir dann öfter beisammensein.
Blaue Augen
Sein Leben auf der Welt konnte mit einem Spaziergang durch den Wald verglichen werden. Der Wald war von blauer Farbe, die Bäume sahen etwas starr aus - wie seine Augen mit den den stechend blauen Kristallen rund um die Iris. Man mußte die Pflanzen des Waldes schon erst antasten, um sich von ihrer Echtheit und Lebenskraft zu überzeugen. Der Wald war dicht, oft umarmten sich mehrere der Stämme zu einem tiefen Blauschwarz, aber es gab auch riesige Lichtungen, in denen das Pastellblau mit der Farbe des Himmels verschmolz und man sich in der Mitte der Lichtung vorkam, als sei man das Zentrum einer unendlich großen blauen Kugel, das Zentrum von allem und von nichts, das Zentrum des Universums. Doch es gab nur wenige solche Lichtungen, und sie waren im blauschwarzen Dickicht des Waldes schwer zu finden.
Zufall
Der Wind des Zufalls
weht Gedanken
durch kleine, versteckte,
aber nie verschlossene
Öffnungen in deinem Kopf,
und deine Aufgabe
ist es nun,
sie zu ordnen,
vermehren,
erweitern;
und vor allem,
sie zum richtigen Zeitpunkt
wieder zu finden und ihnen
einen Sinn zu geben.
Deine Welt
Die Menschen können sie nicht kaputt machen.
Betrachte sie, greif nach ihr, hol sie dir. Sie gehört dir. Niemand darf sie dir wegnehmen.
Du bist alleine - auf einem zerbrechlichen Glasschiff inmitten des Sternenmeeres.
Jetzt ist es zerbrochen. In tausend winzigkleine Scherben, die im Weltall schweben. Du sitzt auf einer, suchst die anderen. Aber du wirst sie nie finden. Vergiss sie.
Vergiß dich selbst. Schau die Sonne an, die Sterne und den Mond. Sie sind immer gleich.
Bitte, vergiss alles.
Es ist nicht wert, dass du dich damit abgibst.
Ja, die Menschen haben nicht auf die Erde aufgepasst.
Schließe die Augen und denke an das Nichts.
Vergiss deinen Namen, deine Stadt, die ganze zerbrochene Welt.
Das Zebra
Schwarz-weiße Musterung,
geheimnisvolle Zeichen und Symbole,
gekrümmte Linien oder einfache Kanten.
Schwarz und weiß, zwei gänzlich gegensätzliche Farben.
Trotzdem versucht jede einzelne,
zur anderen zu gelangen, sich mit ihr zur vereinigen.
Auf der Suche nacheinander...endlose, zeitlose Suche.
Suche nach Einigung, Verständigung.
Das Zebra und alle suchen es:
das Leben im Einklang mit dem anderen.
Die Spirale [Kleines Hörspiel]
Ein kurzer Augenblick - das Aufeinandertreffen von zwei Menschen, wobei sich ihre Augen zufällig treffen, bei dem sich die Augen magisch anziehen und und sich nicht mehr voneinander loslösen können. Ein langer intensiver Blick, der sie aneinander fesselt.
Der Kontakt zieht die beiden Blicke zusammen, einer ist stärker als der andere, der davon überwältigt wird. Er wird förmlich eingesogen, alles ringsherum fängt an, zu verschwimmen, wird immer heller, unschärfer, unwirklicher. Alles rund ums Auge fängt an, sich zu drehen, es dreht sich die ganze milchig-trüb gewordene Welt um das geheimnisvolle schwarze Zentrum des Auges, sie drückt sich spiralenförmig mit ihrer trägen, eben erst in Bewegung gekommenen Masse in das kleine schwarze Auge hinein, hinein ins tiefste Innere dieses Menschen, der dies alles zuläßt ohne seinen Blick abzuwenden, obwohl gerade der es ist, der alles verursacht hat.
Nun ist es aber zu spät, zu spät wird ihm die immense Kraft seiner Seele bewußt, die nun die ganze Welt zu verschlingen droht. Er sieht den anderen, wie er sich dreht, wie er auf ihn zuschwebt, er sieht den anderen, der ihn immer noch mit seinem Blick fixiert, einem leeren Blick nun, der dem Schwarzen immer näher kommt, der nur von ihm geleitet wird, der seinen Körper und die ganze Welt mit sich zieht.
Kreisend schwebt er darauf zu, immer schneller, immer tiefer, immer endgültiger, es gibt kein Zurück mehr, kein Zurück.
Wie - wieso - wieso?
Was .. ist .. los ... mit mir?
Was .. ist .. los ....was!?
War .. es nur der kurze Augenblick, der kurze? Was ist los mit der Zeit, was ist los mit der Welt-elt-elt-elt-elt...? [Echo, leiser werdend]
Sie dreht sich...
...dreht sich nur wegen einem kurzen, weil zwei sich eigentlich nur zufällig trafen, sich magisch anzogen und nicht loslösen konnten. Langer intensiver fesselte, zog zusammen, war stärker, davon überwältigt.
Wurde förmlich eingesogen, ringsherum fing an, zu verschwimmen, wurde immer heller, unschärfer, unwirklicher. Fing an, zu drehen, drehte ganze milchig-trüb gewordene um geheimnisvolle schwarze, drückte sich spiralenförmig mit trägen, eben gekommenen in kleine schwarze hinein, hinein ins tiefste. Alles zuließ ohne abzuwenden, obwohl gerade alles verursacht hatte.
Nun war aber zu spät, bewusst nun ganze zu verschlingen drohte. Sah, wie drehte, wie zuschwebte, sah, immer noch fixierte, leeren, nun immer näher kam, nur geleitet wurde und die ganze mit sich zog.
Kreisend schwebte darauf zu, immer schneller, immer tiefer, immer endgültiger, es gab kein mehr, es gibt kein mehr, kein...
Schneller, schneller-eller-eller-eller-eller [Echo]
Weil...
...zwei sich eigentlich nur trafen, anzogen und nicht mehr loslösen konnten, aneinander fesselte. Zog zusammen, war überwältigt, wurde eingesogen, fing an, zu verschwimmen, wurde immer rund, fing an, zu drehen, drehte sich um, drückte sich eben erst in gekommenen hinein, alles zuließ ohne abzuwenden, obwohl alles verursacht.
Nun ist zu, zu verschlingen droht. Sah, wie drehte, zuschwebte, sah, immer noch fixierte, nun immer nur geleitet wurde und mit sich zog.
Schwebte darauf zu, immer, immer, immer, es gab, es gibt kein mehr, kein... kein... kein... [stiller werdend]
Ahhhhhh! [plötzlicher Schrei, Donnergetöse, Blitze auf Bildschirmen, unmittelbares Verstummen, Stille]
Wo - wo - wohhh - Bin Ichhhh ? [Leise, lauter werdend]
[Antwort] Wo!Hier. Woher?
Musik
Vor kurzem besuchte ich ein klassisches Konzert. Da ich von Musik, also von der diesbezüglichen Technik, so gut wie gar nichts verstehe, spazierte ich ganz ungezwungen und einigermaßen neugierig in die große Halle. Als dann die Musiker die Bühne betraten und zu spielen anfingen, ärgerte ich mich furchtbar, weil die Hälfte von ihnen entweder von den Zuhörern der vorderen Reihen oder von "ungeschickt platzierten" Säulen verdeckt wurde.
Wahrscheinlich erscheine ich bereits jetzt als naiv oder ungebildet, aber ich wollte all diese verschiedenartigen Instrumente genau betrachten, dazu die Bewegungen und die Miene des jeweiligen Spielers verfolgen und so die Töne auf das jeweilige Instrument und den Musikanten zurückführen. Doch damit war es, wie gesagt, wegen der schlechten Sicht und der Unübersichtlichkeit, recht schlecht bestellt.
Also ärgerte ich mich, dass das Orchester aus so zahlreichen Personen bestand, dass die Bühne für solche Zwecke viel zu klein gebaut worden war, dass alles nur darauf abgezielt war, den armen, unwissenden Konzertbesucher zu verwirren und ihn fehlzuleiten.
Musik hören ist doch etwas Kompliziertes. Da ist das Lesen von Büchern doch viel einfacher und übersichtlicher. Es treten zwar unzählig viele Personen auf, aber immerhin ist doch alles von einer einzigen Person zu einer Einheit, nämlich dem Buch, zusammengefasst worden. Was wäre wohl, wenn ein Autor gleich einem dieser größenwahnsinnigen Komponistengenies - Nichts für ungut. Ich war wirklich sehr verärgert. Im Prinzip bewundere ich diese Menschen nämlich - Also, wenn er eine Gruppe von dreißig "Vorlesern" in diesen Saal schickte, die sich dann alle gleichmäßig auf der Bühne verteilten, das Buch vor sich auf den Ständer stellten... Ich sah alles bildlich vor mir: Wie sie mit erhabenem Haupt ihre Bücher aufschlugen, den Autor ansahen, der eben eingetreten war, und auf sein Zeichen warteten.
Der Autor räusperte sich, ließ seinen Blick gewichtig über die Publikumsmenge schweifen, die ihn beim Eintreten mit tosendem Beifall begrüßt hatte. Mit der Hand gebot er Ruhe, drehte sich um und fing an, zu dirigieren. Die Leser fingen an, alle gleichzeitig vorzutragen - jeder in einer anderen Tonlage, in seinem Rhythmus, jeder ein verschiedenes Textstück, mit einer bald schreienden, bald flüsternden Stimme... Kurz und ehrlich gesagt, ein heilloses Durcheinander.
Während ich mir immer noch genauestens die Szene ausmalte, mir die dreißig durcheinanderplappernden, vom Autor dirigierten Leser vorstellte, schwoll die reale Musik an und hörte plötzlich auf. Ich hatte das Ende dieses Stücks dank meinen Hirngespinsten verpasst. Als die Leute sich erhoben, sich im Gang hintereinander aufstellten und sich in kleinen Schrittchen der Reihe nach in die Vorhalle tasteten, fasste auch ich mich wieder, nahm meine Jacke und reihte mich in die Schlange ein. Vor lauter Ablenkung durch meine eigenen Gedanken hatte ich wieder einmal nur die Hälfte des Geschehenen mitbekommen. Was für eine komische Vorstellung, dieses Leserorchester!
Die Ausstellung
Sie findet in einem großen, gleichmäßig beleuchteten Raum statt. Das ganze übrige Haus ist leer, dunkel - nur im Ausstellungssaal sitzt wie verlassen, vergessen, ein einzelner Wächter. Er ist verantwortungsbewusst, passt auf die Bilder auf, obwohl nicht er selbst es war, der sie gemalt hat, auf Fotografien, bei deren Entstehen - zwar nur in einem Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem...- er nicht dabei war.
Draußen wird es langsam finster, aber dies berührt ihn nicht, denn er ist ja noch lange nicht draußen. Zum Zweck des Aufpassens hat er eigens eine Uhr mitgebracht - sie scheint zu funktionieren - auf jeden Fall tickt sie gleichmäßig und ruhig, wie ein schlafendes Herz - ich meine natürlich das Herz eines Schlafenden - gleichmäßig schlägt.
Eine Zeitbombe! Es schlägt nicht von Geburt an, sondern es zählt die Zeit bis zum Stillstand. Diese Zeit ist wohlbemessen, doch sie ist angeboren. Man kann Angeborenes nun einmal nicht berechnen, sondern vielleicht nur durch langes Zuhören erahnen, erraten.
Eierschale
Das Kind wacht auf. Was ist los? Da ist doch ein Riss in der Eierschale. Fünf Jahre hatte es nun schon hier im Innern des Eies verbracht, hatte sich hier bereits häuslich eingerichtet. Im Großen und Ganzen war es zufrieden mit seiner Welt. Und nun der Riss.. Es schaute hinaus, lernte Schmerz, Leid und Unglück kennen, das, was man vorher vor ihm versteckt hatte. Es war enttäuscht. Erst mit der Zeit merkte es, dass es nicht das Negative der Welt in sich einlassen sollte, sondern das Positive des Eies in die Welt hinausbringen musste. Mit der Zeit erst, wie gesagt, merkte es, dass die Welt viel interessanter war als sein Ei. Die Welt war eine einzige, geheimnisvolle Landschaft, die mit zahlreichen Abenteuern auf ihn wartete, ein riesiges Vergnügungsspiel, das Spiel des Lebens. Ein Spiel mit immer neuen und verschiedenen Herausforderungen, Risiken, Angeboten, Möglichkeiten. Ganz im Gegensatz zu seinem Ei, das sich nie veränderte, das immer gleich war: rund, weiß, ruhig. Das Kind merkte dies alles aber erst, als es sich nach über sechzig Jahren außerhalb des Eies gewahr wurde, dass es immer noch ein Stück Eierschale auf dem Kopf trug.
Naja, sagte es, oder besser gesagt, der alte Mann, lächelnd, während er sein faltiges Gesicht im Spiegel fixierte, zumindest habe ich das Ei nicht aus Zorn und Ohnmächtigkeit vor all den plötzlich aufgetretenen Schwierigkeiten des Lebens jähzornig zertrümmert und bin somit immer mit diesem kleinen Stück Sicherheit und Frieden herumgezogen!
Die Alte
Eine Wohnung, ein Fenster und der Fernsehapparat verbinden die alte Frau mit der Außenwelt. Sie sieht jeden, der vor den Scheiben vorbeigeht, doch niemand sieht sie. Sie hat Angst, vergessen zu werden. Meldungen in den Zeitungen von wochenalten, stinkenden Leichen Alleinlebender scheinen diese Befürchtungen zu bekräftigen. Selten läutet das Telefon, das sie oft wegen ihres schlechten Gehörs gar nicht mehr wahrnimmt; schwer fällt ihren Augen das Lesen; ihre Hand hat das Schreiben verlernt. Ihr Lebensraum wird immer enger, die Wände rücken immer näher.
Und die Kinder spielen trotzdem vor ihrem Fenster, lachend. Die Alte ist unfreundlich, ungeduldig zu ihnen, neidisch um ihren weiten Horizont, ihre Uneingeschränktheit. Denn ihr selbst erscheint die ganze Welt immer kleiner, bald bleibt kein Platz mehr fürs Luftholen; der Magen verträgt immer kleinere Mengen an Nahrung, der Appetit verschwindet; die Haut schrumpelt.
Bald, bald bin nicht mehr ich selbst das alles. Ich existiere dann nicht mehr.
Als Lebende lebt sie recht einsam. Aber kleine Kontakte gibt es noch. Stammtisch, einkaufen, wobei sie alle Leute grüßt, ja ihr Gruß klingt nach, klingt wie ein Hilfeschrei. Doch wer hört ihn? Und wer wäre bereit ihn zu hören? Es wäre eine Last, sie anzuhören, man müsste ihr dann auch helfen. Drum - hat irgend jemand etwas gehört? Nicht einmal diese Frage wird gestellt. Grüß Gott! - und unbarmherzig wird der eigene Weg fortgesetzt.
Manchmal besuchen sie Verwandte, dann ist sie vorwurfsvoll, verbittert.
Ja, sie haben ein schlechtes Gewissen. Das soll ihnen ruhig erhalten bleiben. Dass sie auch noch glauben, sie wäre mit den paar barmherzigen Pflichtbesuchen zufriedenzustellen? Öfter können wir wirklich nicht kommen - betonen sie.
Die Enkelkinder? Die haben ihre eigenen Sorgen. Die zwei jüngsten, ja, die sind vielleicht noch nicht ganz verdorben. Der Junge aber ist viel zu verwöhnt, außerdem hat sie als Mutter von drei Töchtern zu Buben nicht den richtigen Kontakt.
Die kleinste Enkelin ist also ihre Hoffnung. Wie soll diese sie erfüllen, wie soll sie sich verhalten?
Die Frau schüttet ihre Sorgen vor ihr aus, der Ton ihrer bebenden, bitteren Stimme verrät das Letzte, was die Worte im Zusammenspiel mit den Augen, den Falten ihres Gesichtes, ihrer Haltung, ihrem Appetit, der Hygiene und dem rauhen, oberflächlichen Verhalten gegenüber den Bekannten noch auslassen.
Die Enkelin fährt zu ihrer Oma, redet mit ihr, schreibt Briefe und Zettel für sie, geht spazieren, geht zum Stammtisch mit, freundlich lächelnd, damit die anderen sehen können, „wie die Alte verwöhnt wird".
Die Enkelin lässt sich behandeln wie ein Kleinkind, weiß sie doch, dass sie am Tag drauf wieder abfahren kann. Würde sie in der gleichen Stadt wohnen, wäre sie noch machtloser, ihre eigenen Bedürfnisse könnten auf Dauer nicht verdrängt werden.
Sie kehrt immer innerlich recht mitgenommen nach ein paar Tagen nach Hause zurück. Länger würde sie es nicht aushalten. Die Großmutter weiß das, hat aber noch die Ausrede, die Enkelin muss zurück zu ihrer Familie, muss daheim in die Schule gehen. Wenn sie nur hier bei mir, oder mindestens in der Stadt wohnen würde!
Dass dabei zahlreiche Konflikte auftreten würden, will sie nicht wahrhaben, und so bleibt eine kleine Hoffnung bestehen, ein winziger Grund mehr, der sie am Leben erhält, ein keiner Widerstand gegen die Mauern, die immer bedrohlicher werden.
Siehst du, hier sitze ich immer, oder ich liege dort drüben.
Im Eck des Zimmers ist ein Stuhl. Den Rücken beim Heizkörper, sitzt sie zusammengekauert und beobachtet die Leute durchs Fenster.
Ich sehe jeden, der vorbeikommt, mit entwischt niemand. Schade, der Schneehaufen dort vor der rechten Fensterhälfte verdeckt mir seit Winteranfang etwas die Sicht.
Oder sie liegt auf dem Diwan, unter einer Wolldecke.
Ich muss etwas rasten, ich bin müde. Und wenn ich nicht schlafe, ist es hier auch noch gemütlich. Ich sehe die Wolken, die Vögel, die vorbeifliegen, Ob es windig ist, erkenne ich an den Bewegungen der Sträucher. Oft schaue ich fern, die Nachrichten. Um halb neun Uhr abends bin ich sowieso wieder müde und gehe in den oberen Stock schlafen. Sie kriecht die Stiegen hinauf, zeigt der Enkelin, wo ihre Wertpapiere, der Schmuck, die Sparbücher und das Geld liegen.
Damit mindestens einer weiß, wo alles ist, wenn ich nicht mehr bin.
Weißt du, ich bin krank, muss viele Tabletten nehmen, teure Tabletten. Ich kaufe keine Kleider mehr, wer weiß, wie lange ich noch lebe, ob sich Investitionen bei einem altem Menschen wie mir noch auszahlen.
Aber Essen, das kaufst du doch mindestens?
Ach, am Magen und am Appetit fehlt es, am Gebiss auch.
Ich war vor kurzem, im Winter, für sechs Wochen ganz allein. Die Mieter waren alle weg, sie gehen sowieso immer ihre eigenen Wege, Verwandte waren wie so oft keine da. Ich möchte wissen, welcher alte Mensch so etwas erlebt hat. Welcher?
Der Würfler
Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen einmal über das Rechnen und über Berufe nachgedacht habe. Damals bin ich zum Schluss gekommen, dass es unendlich viele Berufe geben muss, die Menschen könnten ja nur damit anzufangen, etwas vorauszuberechnen. Mir ist eingefallen, man könnte beim Mensch-ärgere-dich-nichtSpiel die Würfelzahl voraussagen. Das wäre schon ein Beruf für unzählige Menschen. Und ich stellte mir einen alten Mann mit einem langen Bart vor, der sich in seinen Jugendjahren diesen Beruf ausgesucht hatte. Der Arme tat mir leid. Er war alt und schwach, sicher hatte er nicht mehr lange zu leben. Seit seiner Berufswahl hatte er nichts mehr erlebt. Ja, er war überhaupt kein bisschen weitergekommen. Er war anfangs voller Eifer gewesen. hatte einen Würfel in die Hand genommen und sich alles genau überlegt. Er wollte jede Einzelheit berücksichtigen: die Größe des Würfels, den Abstand zur Tischplatte, die Beschaffenheit der Hand, die Geschwindigkeit und die Richtung, mit der die Hand den Würfel auf die unebene Tischplatte rollte, diese alte Holzplatte, deren Hebungen und Senkungen er sorgfältig aufgezeichnet hatte, deren bezeichnenden Eigenschaften sich aber trotz des jahrzehntelangen Gebrauchs nie verloren, sondern eher verstärkt hatten. Die Wärme, die jede einzelne Faser ausstrahlte, der Duft des "frischen" Holzes schien in jedem Abschnitt der Platte enthalten zu sein, unauslöschbar, eine ewige Erinnerung an den längst gefällten Baum, von dessen Stamm sie herausgeschnitten waren.
Der Würfelberechner allerdings hatte keine Zeit mehr für Riechen, Tasten, Schmecken und Fühlen, was hatte das alles auch mit seiner Lebensaufgabe zu tun? Wichtig war für ihn nur die Oberfläche, die Struktur der Oberfläche.
Ich stellte mir diesen Mann vor. Es war leicht, ihn zu betrachten, ihn anzusehen, denn er ließ mir alle Zeit, die ich wollte. Er selbst hatte sie vergessen, ja, er hatte sich selbst vergessen.
Schau, Alter, wie der Würfel fällt! Wie er hüpft. Kannst du vorher die Richtung wissen? Nein. Rate, sei neugierig. Sei froh über das Unerwartete. Lache darüber. Löse dich von deinem Verantwortungsbewusstsein, du musst nicht alles berechnen, du bist einfach da - das genügt. Erlöse dich von deinen Verkrampfungen!
Das Blümchen
Es lag da ein Blümchen
auf dem Boden Es war zertreten
zerrissen
zerhackt
zerquetscht
Zerrt den Mörder auf die Straße
Zeigt ihm sein Verbrechen
an dem einstigen Lebewesen.
Es lebt jetzt nicht mehr und nie mehr wieder
Du hast zerstört! Stört! Du! Du hast es abgerissen!
Nicht, damit es jemanden erfreut
Nicht, dass du es für die Freundschaft geopfert hättest
Es liegt zerschmettert auf dem heißen Asphalt
Blüht nie-nie-nie wieder,
nimmermehr.
Zertreten - nur, um deine Schuhsohlen und den Asphalt zu besudeln Und dich schuldig zu machen
Schuld!
Der schwarze Fluss
Schwarze Nacht... fast schwarze Nacht, na ja, auf jeden Fall sehr dunkel. Aber ein schwarzer Fluss in einer verlassenen, elektrizitätslosen Gegend. Keine Autos, keine Lichter, kein Lärm, keine Menschen - weder Freund noch Feind. Es gibt keine geheimen Zuschauer, niemanden, der Jonas beobachtet. Er ist allein im großen, dunklen Wald, neben dem absolut dunklen Fluss.
Ja, er weiß es - dieser Fluss wird sein Leben entscheidend verändern. Wie? Das weiß er noch nicht, aber auf irgend eine Art und Weise wird es geschehen.
Das Gefühl beim Betrachten des schwarzen Wassers im schwarzen Wald ist viel zu heftig, als dass er es verdrängen könnte. Eine große Ohnmacht überfällt ihn bei diesem Gefühl. Das Dunkle inmitten im Dunkeln - je länger er es mit seinen Augen fixiert, desto mehr schwindet sein Bewusstsein. Es erscheint ihm so unwichtig, dass er es ist, Jonas, der den unsichtbaren Fluss ansieht. Es könnte genauso gut ein anderer sein. Wie wäre es zum Beispiel mit Josephine, oder etwa mit Janosch, seinem kleinen Hündchen, mit dem er einst, vor ganz, ganz langer Zeit immer gespielt hat - damals, als er noch ein kleiner, blonder Junge war. Blond - das Haar war inzwischen dunkler geworden, ja eigentlich braun, dann wieder heller, grauer, dann immer weißer... sein Hund aber war gestorben, als er selbst fünf Jahre alt war. Außerdem, wenn er jetzt in einen Spiegel schauen wollte, wären seine Haare kohlrabenschwarz, ebenso wie sein eingefallenes, faltiges Gesicht. Janosch würde ihn sicher nicht mehr wiedererkennen. Wo er jetzt wohl war? Eingegangen in das Nichts, das Dunkle und Bodenlose...
Auf einmal bekam Jonas eine furchtbare Angst. Er begann, laut in den stillen Wald hineinzuschreien, bis ihm die Kehle trocken wurde. Genauso plötzlich, wie das Gebrüll eingesetzt, ihn regelrecht übermannt hatte, hörte es wieder auf. Erschrocken über sich selbst, verstummte er, leitete damit wieder die bis vor kurzem unangetastete Stille ein. Angestrengt begann er zu lauschen. Aber nichts regte sich, nichts drang bis zu seinen Ohren vor.
Langsam und zaghaft begann er, sich darauf vorzubereiten, die Hände zu bewegen. Solange er sich erinnern konnte, hatte er noch nie so bewusst und intensiv versucht, etwas eigentlich dermaßen Simples zu tun, wie jetzt, eben einfach nur die Hände zu bewegen.
So oder ähnlich musste es ihm ergangen sein, als er vor den unzähligen Jahren seines Lebens an die Welt gekommen war.
Aber nein, damals kam er aus dem dunklen Mutterbauch heraus in die grelle und laute Welt - und jetzt war er allein im stillen, dunklen Wald. Damals hatte er sicher noch viel Mut besessen, hatte sich, lauthals schreiend, beschwert, aus dem behaglichen Innern der Gebärmutter herausgepresst worden zu sein.
Und nun traute er sich nicht einmal mehr zu, sich zu bewegen...
Damals war seine Mutter noch mit ihm - ihn überfiel eine furchtbare Einsamkeit. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares erlebt, oder auch nur bei anderen miterlebt. Nie hatte er von solch einem Grauen geträumt.
Wann überhaupt hatte er das letzte Mal geträumt? Als er das erste Mal in einem richtigen, großen Bett schlafen durfte, für das er eigentlich noch viel zu klein war, aus dem er dann gleich in der ersten Nacht fünf Male auf den Parkettboden gefallen war und in der Folge immer von einem bodenlosen, unendlichen Fall in die Tiefe geträumt hatte?
Oder war es damals, als Janosch, sein Hund, von einem Auto überfahren worden war, und er jede Nacht von neuem mit dem Blut seines geliebten Haustieres übergossen wurde? Unendlich viel Blut strömte da immer aus dem kleinen Tierkörper aus! Es verklebte ihm die Augen und füllte seinen Mund, worauf er schreckliche Übelkeitsanfälle bekam und im endlosen Blutmeer ersoff - mit einem Schrei und dem obligatorischen Fall auf den Fußboden wachte er schmerzvoll immer wieder auf.
Und nun erinnerte er sich an alle verflossenen Träume, an die verzweifelten Schreie, die er damals ausgestoßen hatte, an die schmerzvollen, blauen Flecken, die er vor allem an den Knien und auf dem Rücken bekommen hatte, an das vielfältige, grausame Sterben, ja, Verrecken in seinen Alpträumen, sei es nun Ersticken, Ersaufen, Verbrennen, Stürzen, erschlagen zu werden, erstochen, aufgespießt - er hatte es längst vergessen, auf welch grausame Art und Weise er beinahe Nacht für Nacht in seinen frühen Jahren zu "sterben" pflegte. Eigentlich schaffte er es immer, bis zum Aufstehen am Morgen so weit zu sein, um den ganzen Traum systematisch verdrängt und vergessen zu haben. Ja, seine diesbezügliche Strategie funktionierte so gut, dass er der besorgten Mutter, die sich über die blauen Flecken an seinem Körper wunderte, mit reinem Gewissen erstaunt antworten konnte: "Keine Ahnung, wobei ich mir diese Flecken zugezogen habe, ich habe wohl beim Spielen nicht so richtig aufgepasst."
Warum diese Bilder nun alle wieder in voller Grausamkeit in sein Bewusstsein traten, war Jonas ein großes Rätsel. Irgendwie fühlte er sich schuldig, so, wie sich etwa in Amerika ein zehnfacher Kindermörder fühlen musste - in der Nacht bevor er sich auf den elektrischen Stuhl setzen musste, beziehungsweise gesetzt wurde. Dabei hatte er ja eigentlich keinen rechten Anlass, sich schuldig zu fühlen. Im Großen und Ganzen hatte er sich immer korrekt verhalten. Und trotzdem - das Schuldgefühl wurde immer stärker, immer unerträglicher, je mehr er sich selbst davon überzeugen wollte, dass es unbegründet war und nur durch zufällige äußere Umstände, die zwar existent, aber für ihn im Moment nicht erfassbar waren, aufgekommen war.
So sehr er sich bemühte, sie abzuschütteln, desto intensiver wurde seine "Schuld". Keine Rechtfertigung, keine Ausrede fiel ihm ein. Dass dies nur der Fall war, da er auch den Anlass und den Inhalt der Schuld nicht kannte, vergaß er völlig,
Er steigerte sich so in seine Rolle als Schuldiger hinein, dass er fühlte, wie seine Gedanken immer schneller durch den Kopf rasten; wie der Strom, der, einmal durch einen Kurzschluss befreit, sich in seiner vollen, zerstörerischen Kraft im Stromkreis ausbreitete und immer mächtiger wurde, bis die heißen Drähte schließlich schmolzen und damit ihre Funktion aufgaben.
Doch so weit kam es mit Jonas zum Glück nicht. Er fing zwar an, immer schneller das Gleiche zu denken, sodass er das, was er dachte, in der Geschwindigkeit wieder vergaß. Ob es nun Worte waren, oder Bilder, oder Vorstellungen, Gefühle, Inhalte - er begriff es nicht mehr. Allzu schnell raste alles durch seinen Kopf, sodass ihm schon ganz heiß, schwindlig und übel war.
Er fing an, zu zittern - und damit wusste er wieder, was vor seinem Anfall passiert war. Er hatte ja nur versucht, die Hände zu bewegen. Dumpf glaubte er sich zu erinnern, sie zum Abtasten der Ohren benutzen gewollt zu haben, aber er war sich nicht ganz sicher. Was sollte dies alles bedeuten? Dieser plötzliche Anfall, wie er noch nie in seinem Leben einen gehabt hatte, sollte durch den lächerlichen Versuch seinerseits, dasVorhanden- und Intaktsein seiner Ohren zu überprüfen, ausgelöst worden sein? Seine eigene Naivität und Anfälligkeit begannen ihn zu beunruhigen.
Dieser Anfall war sicher von etwas ganz anderem ausgelöst worden - ach ja, es waren ihm die Alpträume seiner frühen Kindheit eingefallen. Wieso eigentlich die Alpträume? Wieso nicht die sicher ebenso zahlreichen guten und schönen Träume, ohne die er sicher nie sein nun doch recht stattliches Alter erreicht hatte? Er fühlte sich irgendwie schuldig, da er offensichtlich tendierte, nur das Schlechte in seinem Leben zu vermerken, nur dem "Bösen" Beachtung zu schenken. Schuldig... halt! Das war der Beginn des Anfalls.
Jonas, halte die Spirale an, bevor sie sich wieder in Bewegung setzt, verhindere einen erneuten Kurzschluss. Du darfst dich nicht überfordern.
Jonas holte tief Luft. Langsam fasste er sich wieder. Er war froh, nun endlich zu wissen, an was er gerade vorhin gescheitert war - an der Spirale der Schuld. Unbegründet oder nicht, hin oder her, diese Spirale zog ihn förmlich magisch an, wie der Strudel des Flusses den ahnungslosen Schwimmer. Schwimmen, dieses Wort verursachte in ihm eine solche Lust, sofort in den dunklen, gleichmäßig plätschernden Fluss zu steigen, dass er sich selbst kaum mit vernünftigen Verboten davon abhalten konnte. Das Plätschern des Flusses schwoll an, wurde immer lauter und verlockender, dass das Geräusch selbst ihn nur nebenbei, am Rande berührte, obwohl er doch eben noch an seinem Gehör gezweifelt hatte. Das vorhin nicht wahrgenommene Geplätscher war nun viel zu schön im Klang, als dass er auch nur einen kleinen Gedanken an die vorhin vernommene Stille, das heißt, an das vorhin vernommene lautlose Geräusch verschwenden wollte.
Das Wasser des unsichtbaren Flusses machte auf einmal die wunderschönste Musik, zauberhafte Töne, die für niemand anderen, als für ihn selbst, aus dem Stegreif komponiert wurden und immer wieder neu, immer ein wenig anders als vorhin, ertönten. Die Musik schien ihn geradezu einzuladen, in das Wasser zu steigen und darin im Takt zu schwimmen, mit leichtem, nahezu schwerelosen Körper dazu zu tanzen.
Ja, das war es: Er wollte unbedingt tanzen. Wie lange hatte er wohl nicht mehr getanzt? Er musste auf der Stelle versuchen, ob er noch der Gleiche war, wie vor langer Zeit, als er seine liebe Antonia zum ersten Tanz aufforderte. Er hatte sich das Tanzen heimlich vor dem Spiegel in tagelanger Übungszeit selbst beigebracht, um seinen Schwarm auffordern zu können.
Mit einem entschlossenen Schritt nach vorne wollte er an den Flussrand treten, um dann mit einem eleganten Kopfsprung in das Wasser zu hüpfen. Das Ufer war hier aber sumpfig, das Erdreich brach unter seinem Gewicht zusammen. Mit einem lauten Schrei stürzte er kopfüber in das Wasser. Verebbendes Plumpsen zugleich mit einem dumpfen Schlag wie aus weiter Ferne - und dann war wieder Stille.
Sein Kopf war an einem Stein aufgeschlagen. Bewusstlos und schlaff lag sein Körper im dunklen Wasser...
Dunkel
Es ist dunkel, dunkler als dunkel, dünkt mich. Ich hätte, wäre ich hier geboren, keine Augen gebraucht. Eine komische Vorstellung - mein Gesicht ohne Augen - zum Glück würde es hier in diesem Pechschwarz niemand anschauen, dazu ist es zu finster. Ein leichter Luftzug lässt mich zusammenschaudern und ich fühle, wie die Haut der Arme und auch die des Kopfes sich etwas zusammenzieht und versucht, die Haare senkrecht aufzustellen - auf dem Kopf natürlich ein aussichtsloses Unternehmen. So langsam wird es auch noch kalt. Ich werde mich wohl oder übel auf den Weg machen, um von hier wegzukommen.
Ein leises Gefühl warnt mich davor, länger hierzubleiben. Ich fühle, wie alles im Schlamm der Irrationalität versinkt und unaufhaltsam immer tiefer dort untergeht und zu ersticken droht. Das heißt - wie lange Zeit halte ich mich schon hier auf? Ich möchte endlich wieder in der Helligkeit leben!
Was in aller Welt ist denn nun eigentlich mit mir passiert?
Die Uhr
In fünf Minuten erreichen wir Briso, Endstation! rief der Schaffner.
Urban horchte auf. Nun war es soweit. Er stand umständlich auf und öffnete das Zugfenster. Ein heftiger Luftzug kam in das Abteil. Die Zeitung, in der er eben gelesen hatte, fiel auf den Boden. Er schaute sie eine Weile fasziniert an, drehte sich mit einem Ruck um und begann, seine Armbanduhr auszuziehen. Er nahm sie in die Hand und beobachtete die Zeiger. Sechzehn Uhr und siebenunddreißig Minuten. Der Sekundenzeiger, zuerst auf sieben, bewegte sich gleichmäßig weiter. Acht, neun, zehn,..
Er verfolgte den Zeiger mit größter Aufmerksamkeit und zählte in Gedanken mit. Eins... und zwei! Mit einer weit ausholenden Armbewegung schleuderte er die Uhr zum Fenster hinaus. Mit Genugtuung sah er zu, wie sie die Böschung hinabfiel.
Hier, am Bahndamm der Stadt Briso, wird sie so bald niemand finden. Und wenn sich einmal in etlichen Jahren ein Kind an dieser Stelle beim Spielen bücken wird, uni das verrostete Stück Metall genauer zu betrachten, dann wird es sich vielleicht fragen, wie es hierhergekommen ist, wem es einmal gehört hat.
Du wirst nie erfahren, dass es meine Uhr war, Kind der Zukunft. Von nun an brauche ich keine Uhr mehr, keine Zeit. Ich hoffe, dass die Uhr nicht mehr funktionstüchtig ist, wenn du sie findest. Ich hoffe es für dich, dass du nicht ihr Sklave werden kannst, ihr immer gehorchend, dein Leben auf die sechzig Zwischenräume zwischen den Ziffern aufteilend, überwacht vom Sekundenzeiger, der unerbittlich und zerstörerisch in gleichmäßigen Schritten seinen Rundgang macht, um dich zu überwachen.
Wie lang hatte er gebraucht, um sich loszureißen! Endlich hatte er die Kraft gefunden, aus der kreisenden Gewohnheit auszusteigen und ein neues Dasein anzufangen.
Er beobachtete die Landschaft draußen, die nun immer langsamer am Fenster vorbeistrich. Gleich würde der Zug halten. Er holte den Koffer vom Gepäckträger und trat in den Gang hinaus. Gespannt schaute er sich um und betrachtete die Leute, die gleich ihm aus ihren Abteilen hervorgekommen waren. Keiner von ihnen wirkte anziehend auf ihn. Alle waren in ihre eigenen Gedanken versunken, und manche, die zusammen reisten, redeten gedämpft miteinander. Keiner schien ihn zu bemerken. Er fiel unter ihnen auch überhaupt nicht auf, wie er zufrieden feststellte.
Hier wollte er ein neues Leben beginnen.
Normal
Ich und du, wir sind normal.
Er ist wahnsinnig, wir sperren ihn in ein Irrenhaus.
Sie spinnt, wir gehen ihr aus dem Weg.
Die zwei dort drüben, die sind abnormal. Sie schlafen auf einer Bank im Park. Wir dürfen nicht hinschauen, sie sind keine normalen Menschen.
Eine Frage: Bist du sicher, dass w i r normal sind?
Unsterblich
Wir sind alle sterblich. Wir leben, um zu sterben.
Unsere Ahnen lebten, sie starben und sind jetzt tot.
Halt! Sind sie denn wirklich tot? Schließe die Augen.
Und stell dir deine Großmutter vor.
Du siehst sie, wie sie lebt, nicht wie sie tot ist.
Aber ist sie denn wirklich tot,
wenn du nur die Augen zumachen musst, damit sie - für dich - lebt?
Ich höre die Musik von jemandem, der seit zwanzig Jahren tot ist.
Schau diese Höhlenmalereien an.
Sind sie nicht schön? Der Maler ist seit über tausend Jahren tot.
Siehst du dieses Bild? Der abgebildete Mensch ist schon lang gestorben. Schau es dir genau an. Ist es das Bild eines Toten? Sobald du es anschaust, denkst du an ihn. Kann man an etwas Totes, Lebloses denken? Lebt es nicht irgendwo im Labyrinth deines Gehirns weiter?
Komm, verlassen wir die Realität. Erwecken wir alles wieder zum Leben. Und seien wir glücklich dabei. Gehen wir, laufen wir, bis wir Licht sehen und zum Eingang kommen. Zum Eingang in eine andere Welt.
Eine Welt voller Farben. Voller Leben.
Doch - ist dies das Paradies?
Nein, es ist nur Illusion. Phantasie. Unwirklichkeit.
Kehren wir wieder zurück in die Realität. Und suchen wir unser Paradies. Schaffen wir es uns. Machen wir die Illusion zur Realität. Die Phantasie zur Wissenschaft.
Dann finden wir das Paradies auf Erden.
Komm mit mir ins Land der vermeintlichen Illusionen.
Kann jemand tot sein, wenn auch nur ein Einziger an ihn denkt?
Setze auch du ein Zeichen - und werde unsterblich.
Schlaflos
Wackel, wackel...
Kratze, kratze
Schüttle, schüttle
Schaue
Drehe, drehe
Dich immer wieder erschöpft
Zurück.
Gebet
Lieber Gott,
ich bete nicht oft zu dir, auf jeden Fall nicht auf diese herkömmliche Weise. Ich hoffe, du verzeihst es mir. Ehrlich gesagt, weiß ich einfach nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll.
Als ich ein ganz kleines Mädchen war, erschien mir alles viel einfacher: Gott war, simpel ausgedrückt, auf lange Sicht das Wichtigste auf der Welt, das Prinzip, aus dem alles hervorgegangen ist.
Viele "Erwachsene" bezweifeln, dass Kinder dies begreifen können, sie wollen leugnen, dass ein Kleinkind keine Probleme hat, sich solch etwas Abstraktes vorzustellen. Wahrscheinlich haben sie mit der Zeit viel von ihrem abstrakten Vorstellungsvermögen eingebüßt, kommen damit einfach nicht zurecht und sagen der Einfachheit halber, sie hätten diese Fähigkeit nie besessen.
Ich auf jeden Fall war mir sicher: Am Anfang war Gott, es gibt ihn auch jetzt, er ist überall, er hört alles, sieht alles, verfolgt alles mit. Am Sonntag danken ihm alle zusammen in der Kirche, wochentags beten sie zu Hause im Bett.
Ich sah es als selbstverständlich an, in die Kirche zu gehen.. bis ich dann in die Schule kam und man mir weismachen wollte, Gott sei ein alter, runzliger Mann, der im Himmel mit blonden, pausbäckigen Engelchen lebt und über den Wolken schwebt. Bei diesem Gedanken wurde ich nun doch etwas skeptisch..
Dann erfuhr ich, dass viele Menschen behaupteten, es gebe gar keinen Gott, er sei eine Erfindung des Klerus, der sich dank dieser Erfindung bereichern wollte.
Zusätzlich erfuhr ich, dass das in der Kirche gespendete Geld - ich gab fast mein ganzes Taschengeld ab - nicht etwa bei den Armen, wie man uns Kindern immer erzählt hatte, sondern beim Priester der jeweiligen Kirche landete, in meinem Fall also bei einem mir nicht gerade sonderlich sympathischen Menschen.
Und so kam es, dass ich aufhörte, religiös zu sein..
Bis ich in Mexiko eine kleine Dorfkirche betrat: keine Bänke, ein hölzerner Altar, Leute, die das Wachs vom Boden abkratzten, daneben auf dem Steinboden kniende Männer, Frauen, Kinder, Gebetsformeln murmelnd, überall am Boden aufgestellte, weiße Kerzen, frische Blüten, dazu der Geruch von Tannennadeln - ich konnte den Glauben dieser Menschen förmlich spüren, das ganze Haus war damit erfüllt. Diese Menschen waren also "die armen, von der europäischen Kirche gewaltsam christianisierten Indianer".
Ich schämte mich vor mir selbst und vor diesen Menschen - für meine Ignoranz und Überheblichkeit, und für die vielen Europäer, die gleich mir durch ihren Wohlstand Gott einfach übersahen.
Doch.. von einem Tag auf den anderen ist es schwer, sich zu verändern. Dieses Gebet, das ich heute versuche, nach langer Zeit des Schweigens, soll vielleicht ein Neuanfang sein.
Die Küste
Weiße Krebse werfen kaum wahrnehmbare schnelle Schatten auf den ebenfalls weißen Sand. Die Anpassung der winzigen Lebewesen ist nahezu perfekt, beugt sie sich doch nur dem notwendigen Spiel zwischen Licht und Dunkelheit.
Der Strand ist geschützt durch eine Sandbank mit einem Korallenriff. So werden allzu große Wellen aufgefangen und die kräftigen Bewegungen des Meeres eingedämmt. Bei Flut gelangt das Wasser bis an das zerklüftete, siebartige Gestein der Böschung heran, bei Ebbe wird ein schmaler Streifen weißen Sandes sichtbar. Das Meer wechselt zwischen Braun-Grün-Blau-Weiß- Tönen in allen Variationen und Schattierungen. Einige Auslegerboote mit Fischern sind draußen im niedrigen Wasser.
An der Böschung warten die Muscheln geduldig auf die Flut, während Warane und Eidechsen sich zur gleichen Zeit auf den Felsen in der Sonne ausstrecken.
Wind (Abendstimmung)
Der Wind versetzt in Schwingungen. Wir setzen uns ihm aus, ihm kräftig wie ein Fels standhaltend; doch dann, erst dann, wenn der Tag sich dem Ende neigt und der Wind für heute verstummt, um sich in der Nacht wieder in voller Kraft zu entfalten, spüren wir unsere eigene Winzigkeit und Empfindlichkeit, wenn der Kopf und das Herz nachdröhnen. Wir zittern wie die Gräser, denen wir uns am Tage überlegen zu sein glaubten, noch eine Weile kleinlaut nach. Schutzbedürftig drängen wir uns dicht an warmen Orten näher zusammen.
Bald wird sich die Luft wie ein breiter Vorhang langsam verdunkeln und abkühlen. Sie ist nicht sehr dicht, immer findet der Wind einen Weg durch sie hindurch und erfrischt Körper und Gedanken. Der Tag neigt sich seinem Ende zu, flüchtig verbeugt er sich vor seinem Herrscher, der Sonne, der würdevoll in angemessener Ruhe am Horizont verschwindet.
Die Pflanzen kleiden sich in Grau, um sich der Nacht anzupassen.
Der Mond lädt uns zu einem kleinen Spielchen ein, nur zur Hälfte schaut er aus dem Himmel heraus und überlässt es unserer Phantasie, uns seine zweite Hälfte vorzustellen, die wieder einmal zu müde ist, um uns Gesellschaft zu leisten.
Die Luft senkt sich mit den im Laufe des Tages gesammelten Gerüchen auf die Erde nieder, auch sie war heute sehr aktiv, nun will sie endlich ausruhen.
Wie wird es wohl gerade in Afrika sein? Erkennt man dort den Äquator? Wie fühlen sich die Leute, die am meisten Erde unter sich haben?
Nacht
Schwärze, tiefe Schwärze herrscht in der Nacht. Ich jedenfalls glaube es. Es ist gerade Nacht, laut meiner Uhr. Aber mein Zeitgefühl stimmt nicht mit ihr überein. Ewas stört mich. Unwillig wälze ich mich auf meiner Matratze hin und her. Ich blinzle mit den Augen.
Das Zimmer ist dunkel, aber ich kann alles noch erkennen, alles, was ich zu dieser "Nachtzeit" erkennen muss: die Tische, die Stühle, die Möbel, die Schuhe, Bücher und Kleider, die überall über den Boden verstreut liegen. Wie muss dies alles auf Außenstehende verwirrend wirken - diese Unordnung in meinem Zimmer. Die Tische, aufgehäuft mit Notizzetteln, Kassetten, Tassen, Fotoalben, Flugzetteln, Draht, Farbtiegeln und Pinseln.
Vielleicht kommt jemandem einmal die Idee, den Tisch dort drüben, auf den das Licht des Mondes oder der Straßenlampe - ich weiß nicht, welches - fällt, aufzuräumen und sich jedes einzelne Ding anzuschauen, oder sogar sich alle zu merken und sie zu zählen. Ich wäre neugierig, ob es einen Menschen gibt, der dazu imstande ist. Gäbe es einen, ich glaube, er wäre mir sehr unheimlich: einer, der sich in meinem Zimmer besser auskennt als ich selbst.
Ich muss gestehen, dass auch ich die Übersicht verloren habe, schon lange - mindestens bis zu meinem zweiten Lebensjahr muss man zurückgehen, um etwas Ordnung zu finden. Doch wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass je etwas Ordnung in meinem Leben geherrscht hat. Dass es überhaupt ein Leben geben kann, das vollständig geordnet ist, kann ich mir nicht vorstellen. Warum also versucht der Mensch überhaupt, alles zu ordnen, zu berechnen, zu begreifen?
Ungewohnte Zeit
In der Nacht sind die Platanen der Allee von den Straßenlampen erhellt, die Äste werfen bizarre Schatten aufeinander, durch den Kontrast schaut alles ganz verschlungen aus. Ich gehe nach links, in die kurze Straße, die zum Garten führt. Auch das Gartentor ist beleuchtet, es hat eine schöne Form, wie ich zum ersten Mal feststelle. Der Baum daneben erinnert an die heiligen Bäume der Buddhisten, hoch, mächtig, eingefasst in ein hohes quadratisches Beet. Im Garten angelangt, schüttelt es mich ab. Kalt! Ich bewege den Kopf schnell hin und her, aber nicht ich wackle, sondern die Pflanzen im Garten.
Die Luft ist grau und schwer. Diese düstere Masse wird von der starken Kraft des Windes hin und her getrieben. Die weißen Pollen bleiben förmlich in dieser Masse kleben, sie können nicht zu Boden sinken, werden mitgerissen. In den spärlichen Sonnenstrahlen flackern sie immer wieder kurz auf, machen die Leute nervös, unruhig. Man fühlt sich gehetzt und gefangen gleich den Pollen, hat Angst, die zum Atmen in die Lungen gepumpte Luft wäre schwer wie Blei, stellt sich vor, wie die Pollen an den Lungenbläschen hängenbleiben und sie verkleben.
Sie und der Sommer
Endlich war sie wieder zufrieden. Sie konnte sich freuen, einfach nur in der Sonne zu liegen, die Sonnenstrahlen in sich eindringen zu lassen. »Vielleicht kann man einfach nur von der Sonne leben. Die Energie des Weltalls in sich aufnehmen.«
Sie schaute den Vögeln zu, ließ sich die alte Weisheit des Flusses erzählen und hörte dem Wind zu. Sie lag einfach nur da, im Gras, und fühlte sich geborgen zwischen den vielen Halmen und in der angenehmen Wärme. Die Erde und ihr Fell, die Pflanzen, dufteten: der Sommer war heute gekommen, genau heute, er sagte ihr fröhlich »Guten Tag« Sie streckte sich der Länge nach aus, das Gesicht, die Füße und die Handflächen zur Sonne hin.
Heute war Festtag, der Festtag der Natur, den man nicht voraussagen kann und bei dem die Menschen immer erleichtert sind, Jahr für Jahr; dankbar, dass er nun doch wieder gekommen ist. Die Geheimnisse der Natur lassen immer auf sich warten, sie necken die Menschen, sind dann aber doch wieder versöhnlich und geben ihnen das Geschenk der Hoffnung, die dann nie wirklich enttäuscht wird. Sanft erinnern sie die Lebenden, dass nichts selbstverständlich ist, alles vergänglich, sodass sie froh sind, dass gerade sie auf der Welt erschienen sind und immer noch ihr Gast bleiben dürfen.
Auch die Grashalme zeigen, dass sie voller Leben sind. Den Wind im Rücken, bewegen sie sich hin und her, berühren vorsichtig die befreite, bloß daliegende Haut der weißen Füße und des warmen Gesichts.
Alte, gute Erinnerungen kommen auf, gleichsam mit der Vorahnung auf die kommenden Tage, auf Ruhe, leises Glück und Erholung. Der Mund dehnt und streckt sich nach oben, macht sich gewissermaßen selbstständig und hüpft ungebändigt hin und her.
Der Frosch sitzt wieder auf seinem alten Platz und quakt vor sich hin. Würde er länger leben, er würde wohl mit dem Stein verwachsen und mit ihm ein neues Lebewesen bilden.
Wie alt werden eigentlich Frösche? Ich wette, sie fühlen sich älter als wir Menschen es erahnen könnten, und lachen uns aus, uns mit unserem unsteten Tun.
Eigentlich sind wir dankbar, und wollen, da wir nicht wissen, wem wir das alles zu verdanken haben, unsere Dankbarkeit auf unsere besten Freunde aufteilen, ja sogar auf beliebige Passanten, die gleich uns still den Festtag feiern und deren Augen im Takt mit dem Wind und den Grashalmen hin und her tanzen. Ja, fast kommt man in Versuchung, die alten, duftenden Bäume der Allee zu umarmen und ihre Blätter zu küssen oder gar zu einer versteckten Gottheit zu beten, zum geheimnisvollen Bescherer unseres Glücks und der aufsprießenden Lebenslust.
Wir spüren förmlich, wie die Pflanzen die ganze Energie der Sonnenstrahlen aufsaugen und sich aufs Wachsen in der Nacht vorbereiten. Wie schön wäre es, draußen bei ihnen zu bleiben, ihnen dabei zuzuhören und auch selbst mit ihnen mitzuwachsen, genauso lautlos, gesund und ruhig.
Das Schaf
Stille, nur ein Schaf blökt aus den grauen Wolken heraus, ja, es scheint selbst ein Bestandteil der Wolken zu sein. Vielleicht hat es sich aber nur hinter den Wolken versteckt, oder die ganzen Wolken könnten auch nur die Wolle eines riesengroßen Schafes sein.
In solche Überlegungen vertieft, blieb der Junge stehen und blickte nach oben. Die Schultern waren nicht vollkommen locker, auch in den Händen ließ sich eine gewisse Spannung feststellen. Der Junge hatte offensichtlich das Bedürfnis, das Schaf zu streicheln oder es immerhin zu berühren, was er dann in seiner Unbeholfenheit auch mit den Augen versuchte. Da die Haare des Jungen kurzgeschnitten waren - sie waren erst kürzlich geschoren worden - sah man deutlich die zwei Falten im Nacken, die sich bildeten, als er den Kopf zum Himmel erhob. In dieser Stellung verblieb er noch eine Weile, um das Kinn dann schließlich mit einem Ruck nach unten zu bewegen; wie zum Ausgleich blickte er nun auf den kiesigen Weg zu seinen Füßen. Endlich verfolgte er mit seinem Blick den Weg, der sich schlängelnd durch die Einöde in die Berge zu zwängen suchte.
Plötzlich verspürte er einen unerklärlichen Haß auf das Schaf.
Das eigenartige Licht, das zur Stunde herrschte, versetzte das Tal in eine eigenartige, fast beunruhigende, bedrohende Stimmung. Die Luft schien die Sonne endgültig ersetzt zu haben. Eigenständig leuchtete sie in einem grellen Gelbgrau. Die Luft, so nahm es der Junge jedenfalls an, hatte, ohne dass er es vorher gemerkt hatte, Eigenleben und Selbstständigkeit bekommen. Nicht mehr die Pflanzen und die Erde, sondern die Luft allein verbreitete den für dieses Tal im Herbst üblichen Duft. Sie war nicht mehr nur Überbringer, Botschafter, sondern alles ging von ihr selbst aus.
Das Schafsfell, das die Wolken bildete, oder umgekehrt, was spielt das für eine Rolle!, verdichtete sich, fing regelrecht zu wachsen an. Es wurde nebelig. Der Geruch der puren Feuchtigkeit kündigte baldigen Regen an. Irgendwie wirkte alles unwirklich, unglaublich. Und die Wolken kamen immer tiefer, obwohl kein Wind sie antrieb. Aus eigener Kraft schritten sie unaufhaltsam vorwärts in die Richtung des Jungen. Dieser begann, die Hände sehr langsam zu schließen, er bewegte sich in der gleichen Geschwindigkeit wie die Wolken, wohl, um einen ebenbürtigen Gegner darzustellen. Er stand immer noch an der gleichen Stelle, die Hände zu Fäusten geballt. In Gedanken rüstete er sich zum Kampf.
Gründliche Vorbereitung tat Not. Er war doch, verglichen mit dem Schaf, dessen volles Ausmaß er mit seinen kleinen Augen gar nicht ganz erfassen konnte, recht klein. Sein Gegner musste sehr groß sein. Er würde sich die Teile, die er von ihm zu Gesicht bekam, alle einzeln merken und sich dann in Gedanken den Riesen wieder in Puzzleform zusammenstellen. Wie er aber die Größe und die körperliche Masse seines Gegenübers fürchtete, wusste er auch, dass er von diesem Monster genauso wichtig eingeschätzt wurde, wie dieses von ihm.
Er könnte das Monster vielleicht durch Verwirrung stiftendes Herumrennen nervös machen, so wie ihn die kleinen Ameisen immer in Unruhe versetzten, wenn sie, scheinbar ohne Ziel, am Boden herumrasten. Nie wusste er, ob er die gleiche Ameise vor sich hatte, die vorher seinen Zorn auf sich gelenkt hatte, oder ob es eine ganz andere, weniger lästige war. So unterließ er selbst es immer wieder, die kleinen Wesen, die durch ihre Winzigkeit einander so ähnlich waren, mit irgendwelchen Gewalttaten zu bestrafen.
Wenn nur endlich ein anderer Mensch ins Tal käme, der ihm bei dieser Taktik von Nutzen sein konnte! Aber heute, bei diesem Wetter, standen seine Chancen sehr schlecht.
Weit und breit war niemand in Sicht!